Out of Africa: Schmerzhafte Erkenntnisse
Neue Züricher Zeitung, 13. Juli 2015 - Wenn der Arzt sich plötzlich in der Rolle des Patienten wiederfindet, der auf die Hilfe von Berufskollegen angewiesen ist. (Kolumne von Ruedi Lüthy, Swiss Aids Care International)
In der Regel bin ich in der Rolle des Arztes, und mir gegenüber sitzen Patienten, die meine Hilfe benötigen. Ich überlege mir anhand von objektiven Kriterien Schritt für Schritt die Diagnose und verordne dann eine angemessene Therapie. In den vergangenen Monaten befand ich mich jedoch plötzlich auf der anderen Seite: Ich war der Patient, der auf die Hilfe von Berufskollegen angewiesen war – ein erzwungener Rollenwechsel, der vermutlich für die meisten Ärzte schwierig ist.
Der Arzt steckt sich an
Eine reaktivierte Tuberkulose hatte mich in die Knie gezwungen. Die Krankheit tritt in Simbabwe und speziell bei unseren HIV-Patienten recht häufig auf, und so ist es eigentlich nicht weiter erstaunlich, dass ich irgendwann – ohne es zu bemerken – angesteckt wurde. Die Bakterien, die von meinem Immunsystem bis dahin erfolgreich bekämpft worden waren, gewannen nach einer schweren Grippe die Oberhand und richteten erheblichen Schaden im Brustfell und im Herzbeutel an. An Arbeiten war nicht mehr zu denken.
Nach ersten Untersuchungen in Harare schaffte ich die Heimreise in die Schweiz. Fachleute waren trotz der hierzulande seltenen Krankheit rasch gefunden, und als es schlimmer wurde, stand ein Spitalbett bereit, und meine Krankenkasse übernahm die Kosten. Mehr denn je wurde mir bewusst: Wir leben im Paradies. Dieses Land hat ein funktionierendes Gesundheitssystem mit gut ausgebildeten Fachleuten, einer Top-Infrastruktur und allen notwendigen Medikamenten und Verfahren.
Schmerzen trotz Top-Gesundheitssystem
Was mich aber am meisten beschäftigte: Trotz allen Annehmlichkeiten und Hilfsmitteln ging es mir, dem privilegierten Schweizer Patienten, hundeelend. Ich litt eine Zeitlang unter grossen Schmerzen. Der Schmerz umhüllte mich wie ein Nebel und machte mich mürbe. Erst nach anfänglicher Zurückhaltung der Ärzte erhielt ich genügend Morphium, das die Schmerzen endlich erträglicher machte.
Wenn es mir in einem Schweizer Universitätsspital schon so schlecht ging, wie muss es dann unseren Patienten in Simbabwe ergehen? Ich musste an einen aidskranken Mann denken, den ich einst in der Armensiedlung Hatcliffe etwas ausserhalb von Harare besucht hatte. Er lag in seiner Hütte auf dem harten Erdboden auf einer dünnen Decke im Sterben. Kein warmes Spitalbett, kein heisser Tee, niemand, der ihn liebevoll daran erinnert hätte, die Medikamente einzunehmen. Niemand, der ihm tröstend die Hand hielt. Er kämpfte ums nackte Überleben und hatte eigentlich schon von Anfang an verloren. Diese eklatante Ungerechtigkeit macht mir nach meinen jüngsten Erfahrungen noch mehr zu schaffen als bis anhin.
Vielleicht denken Sie, ich müsste nach mehr als elf Jahren Leben und Arbeit in Simbabwe abgehärtet sein. Ja, man gewöhnt sich an gewisse Bedingungen, die nicht zu verändern sind. Und so schätzen wir uns in der Newlands Clinic trotz allen Einschränkungen glücklich, dank der Unterstützung aus der Schweiz die richtigen Medikamente inklusive Schmerzmitteln abgeben zu können. Aber trotzdem: Die Unterschiede in der medizinischen Versorgung sind schmerzhaft.
Medizinische Infrastruktur ist nur die Grundlage
Noch etwas wurde mir deutlicher denn je bewusst: Mindestens ebenso wichtig wie die medizinische Infrastruktur ist eine mitfühlende Betreuung. Ärzte und Pflegepersonen können so viel bewirken, wenn sie auf das Befinden und die Bedürfnisse ihrer Patienten eingehen. Denn die Haltung «Ich weiss, was gut ist für dich» hilft nicht weiter, wenn die Schmerzen unerträglich sind oder einen die Kräfte verlassen. Dann braucht man vor allem das Gefühl, gehört und verstanden zu werden.
Mittlerweile geht es mir glücklicherweise viel besser. Wenn ich in einigen Wochen wieder nach Harare zurückreise, will ich das Augenmerk ganz besonders auf die Zuwendung und Empathie in der Betreuung legen. Unsere Krankenschwestern, Ärzte und Ärztinnen machen einen phantastischen Job, aber die Routine ist Gift – in Simbabwe genauso wie in der Schweiz.
Immer wieder gilt es, bewusst die Perspektive unserer Patienten einzunehmen. So bringt es zum Beispiel nichts, Jugendliche, welche die Medikamente nicht regelmässig einnehmen, mit Strenge zurechtzuweisen. Nur wenn wir ihre Beweggründe verstehen, können wir versuchen, etwas für sie zu tun. Manchmal braucht es genau dieses Quentchen Zuwendung und Ernstnehmen, damit sie Mut fassen und sich helfen lassen. Ich bin mir dessen so bewusst wie noch nie. Ich freue mich unglaublich auf die Klinik und das Team, und ich freue mich insbesondere darauf, meine persönlichen Erlebnisse in die Verbesserung der Betreuungsqualität umzuwandeln. (13. Juli 2015)